6. Sonntag nach Trinitatis
St.Matthäus
Scapegoating Pictures
Predigt über Deut 7, 6-12
ev. Mt 28, 16-20
Ep Rö 6, 3-8
Liebe Gemeinde,
Wann wird Privatbesitz zum Diebstahl?
Ist das eine linke Frage?
Auch, aber nicht nur!
Ist es auch eine religiöse Frage?
Gewöhnlich nicht, ist aber diesmal so gemeint,
Mit dem Schrei nach Haltet den Dieb! begann die Reformation.
Der Dieb, das ist aktenkundig, war Luther selber.
Gestohlen hatte er das bekannteste Buch der damaligen Welt: die Bibel. Die katholische Kirche hatte sie privatisiert.
Darin waren sich seine Zeitgenossen einig. Sie klagten etwa so:
Wir hatten unsere Bibel. Die war uns vollkommen vertraut Wenn wir morgens aufwachten, konnten wir mit dem Psalmtext auswendig an der Stelle weitermachen, über der wir am Abend eingeschlafen waren. Wir kannten unsere Bibel im Schlaf. Kein anderes Buch war unserem Gedächtnis so fest eingeschrieben, wie das Buch der Bibel. Niemand konnte es aus unserem Gedächtnis reißen.
Dachten wir.
Doch dann kam Luther mit seiner neuen Bibelübersetzung und wir verstanden nichts mehr.
Er hatte uns unsere Bibel genommen
Er war es, der der Kirche ihr heiligstes Buch gestohlen hat.
Ja, das hat er gemacht.
Damit tat er ein sehr frommes Werk.
Denn: Gott liebt den Dieb.
Und er versteht es oft, so schöne Dinge durch einen Dieb hervorgehen zu lassen:
Denken sie nur an Jakob, der den Esau um den Segen des Vaters bestahl. Der Segen war bei Jakob einfach besser aufgehoben.
Später bestahl Jakob auch noch seinen Schwiegervater ebenso hinterlistig. In dem er seine Beute zuvor listig arrangierte.
Und hat Gott nicht selbst das Volk Israel den Ägyptern gestohlen, als er es hinaus in die Wüste Sinai entführte. Die Ägypter hatten sich das Volk zu eigen gemacht. Doch Gott hatte noch Großes mit ihm vor. Darum stahl er sein Volk
Das gefiel nicht allen.
Die einen sagten angesichts der Gefangenschaft: So, wenigstens ist Fleisch im Topf.
Gott hingegen sagte: Fleisch gegen Freiheit und nicht wenige, die auf ihn hörten.
Und nun achten wir wieder auf den Dieb Luther, als er der katholisch-christlichen Welt die Bibel stahl.
Aber der Reihe nach!
Einmal war da die Kirche, die sich die Bibel so sehr zu eigen gemacht hatte, dass man es Privatisierung nennen kann. Privatio - Diebstahl Raub. Das klingt zwar nach religiösen Sozialisten, ist aber einfache Übersetzung aus dem Lateinischen. Will man nur nicht wahrhaben.
Die Kirche hatte ihre Gründe: Sie sah das Wort Gottes in der Hand des Glaubenden als Gefahr. Sie gab ihm lieber eine strenge Auswahl aus der Bibel an die Hand. Sozusagen einen Readers Digest. So kam der Gläubige nicht vom Wege ab.
Die Bibel hielt sie nämlich für ein dunkles Buch. Je mehr man darin läse, desto stärke schädige man seine eigene Seele.
Luther sah es von der anderen Seite: Die Bibel legt sich selber aus. Je mehr der Gläubige darin liest, desto besser wird er sie verstehen. Also muss man sie der Kirche nehmen und den Gläubigen geben
Der Dieb Luther befreite den Gläubigen zum Bibelleser und wurde so zum Missionar. Er sandte sie in die Bibel und das war die ganze Welt.
Denn die Kirche war zu Luthers Zeit längst nicht mehr alle Welt und alle Völker. Sie war von seelenloser Weite, die des Geistes der Schrift bedurfte. Mission durch Bibelstudium.
Übrigens gelang dies schon den Waldensern der ersten Stunde in Südfrankreich: Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, 3 Jahrhunderte vor der Reformation. Sie machten sich ohne Kirche auf den Weg, mit ihrer eigenen französischen Bibelübersetzung. Sie predigten so machtvoll und mitreißend, dass nicht nur viel Volks ihnen auf dem Weg in eine Zukunft ohne Kirche folgte. Auch viele katholische Bischöfe sahen sich genötigt, ihre Paläste und Dome zu verlassen, um ihren Schafen nachzulaufen.
Vielleicht war das die Entdeckung der Seelsorge: Der Hirt läuft seinen Schafen nach. Aber es war doch die Wiederentdeckung des Guten Hirten.
Die Waldenser stahlen den katholischen Bischöfe ihre Kinder.
Wieder sehen wir:
Gott liebt den Dieb - wenn wir nur immer recht verstünden, wann der Dieb den Dieb bestiehlt.
Nachen wir die Probe aufs Exempel.
Viel bescheidener und doch wiederum höchst unbescheiden wohnen wir in dieser Kirche wieder einem Diebstahl bei. Gilbert und George haben uns die Kirche gestohlen.
Das ist stimmt. Schauen Sie sich nur um!
Ob sie sie auch befreit haben - wer weiß?
Gilbert and George haben die Kirche St. Matthäus durch Verändern gestohlen. Einige meinen, sie hätten die Kirche übel zugerichtet. Entheiligt. Verfälscht. Ihr das unschuldige Weiß gestohlen.
Ich finde, sie haben aus ihr eine sehr große Kiste gemacht. In der Kirche riecht es, wie in einer Tischlerei.
Ich muss, kaum bin ich drin, immer an Jesus denken.
Sohn des Zimmermanns.
Wer in Bethel an der Kirchlichen Hochschule studiert hat, erinnert sich ganz unvermeidlich an diesen Spruch: Auf dieses Häuschen sind wir stolz, denn drinnen sägte Jesus Holz. Jesus einmal ganz anders in der Kirche. Die Matthäus Kirche bekommt etwas Bodenschweres, Handwerkliches. Diebstahl und Gegengabe.
Eine Kiste haben sie zusammengezimmert. Oder, um den Eindruck schärfer zu fassen: in eine Kiste haben sie uns gelockt, die ein Sarg ist. Dahinein haben sie uns gesperrt. Deshalb riecht es nach frischem Fichtenholz.
Ein Sarg in der Dimension eines bemalten Pharaonengrabes.
Mein Empfinden, hier in einem riesigen Sarg zu sitzen, hat nichts mit der Stelle aus dem Römerbrief zu tun, die wir gerade als Epistellesung gehört haben.
Aber man hört die Stelle anders, wenn man in einem Sarg sitzt: Wir sind mit Christus begraben durch die Taufe in den Tod.
- damit, so vollendet Paulus seine Todesfahrt, gleichwie Christus ist auferweckt von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln.
So könnte es sein: dass wir jeden Sonntag sterben und auferstehen.Ins Grab hinabsteigen und lebendig daraus wieder hervorkommen.
Mit Christus verlieren wir unser Leben, um es durch ihn endgültig geschenkt zu bekommen.
Wir müssen durch das Bestohlenwerden hindurch um das Beschenktwerden zu erleben.
Wer weiß, ob Gilbert and George diesen Ablauf im Sinn hatten. Ins Grab haben sie uns jedenfalls gebracht, meiner Empfindung nach.
Da sitzen wir, beäugt von vielen Kunstwerken. Die sehen aus wie komponiert aus riesigen Monitorwänden, aber auch wie bleigefasste Kirchenfenster. Ob sie uns nun in das Reich des Todes begleiten oder uns nur das Leben ausreden wollen. das müsste noch geklärt werden. Denn einfach freundliche Grabbeigaben sind sie nicht.
Schauen Sie mal: Die Gestalten an den Wänden blicken stur und steif. In ihrer rot-schwarzen Sprache drücken sie Gewalt aus und Tod.
Das Brennende und das Verbrannte.
Auf den ersten Blick scheint alles in einer unerschütterlichen Schicksalhaftigkeit gebannt.
Wegen der augenscheinlichen Symmetrie der Dinge.
Man muss aber doch etwas genauer hinschauen: Die Symmetrie ist nur oberflächlich, tatsächlich herrscht ein lebhaftes Unterscheiden in den Bildern.
Irgendetwas an ihnen ist nicht nur Tod. Als ob sie das Lebendige verbergen müssten. Schützen müssten.
Verstörend finde ich das. Sehr sogar. Rätselhaft und differenzierter als ich erwartet hatte.
Gilbert und George ist das mit dem Grabeseindruck nicht nur so passiert. Sie hatten darauf bestanden, dass kein Licht von außen in die Kirche dringen darf. Es sollte auch kein Blick von innen nach außen gehen können. Sie wollten das Gefühl von Höhle und Grabkammer mit der Drohung von Ausweglosigkeit hervorrufen.
Was geschieht mit uns?
Da sitzen wir auf den Stühlen und in den Bänken und lassen uns anstarren. Aus jeder Richtung blicken Augen auf uns.
Den Blicken der kopftuchverhängten, Ganzkörper verkleideten, mit Schießscharten versehenen Gestalten sind wir schutzlos ausgeliefert. Besonders jetzt während des Gottesdienstes können wir uns nicht gegen sie wehren.
Wir sind reine Objekte dieser Gestalten und Wände, so finster wie überlebensgroße.
Wir werden zurückgebombt in ein längst vergessenes Stadium bloßen Objektseins: Von Untertanen, Sklaven, Gefangene. Fast hätte ich hinzugefügt: Katholiken.
Weil Subjektsein doch unser ganzer protestantischer Stolz ist.
500 Jahre Reformation, das sind wachsender Einsatz des Menschen in die Sache der Religion, die seither singende Gemeinde, die selber Bibel lesenden Gläubigen, die Laien, die die Sonntagstexte vortragen und die Fürbitte halten - der mündige Christ, dem die ganze Welt zu tragen aufgetragen ist. Der verantwortlich arbeitende Protestant, dem die ganze Welt als Merial seiner Pflicht aufgebürdet worden ist. Das ist auch Reformation.
Gilbert and George machen da aber nicht mit. Sie drängen uns aus der Mündigkeit zurück in die Unmündigkeit. Die Bilder schauen uns an. Sollten wir es schaffen, zurückschauen: Die Bilder kümmert das überhaupt nicht. Denn sie sind stark, sie sind stärker.
Im Verlauf meiner St. Matthäus Besuche habe ich gehört, das sei hier eine Einladung zur Kommunikation zwischen den Bildern und uns.
Finden Sie?
Ich finde: Die Bilder reden nicht mit uns.
Vielleicht reden sie zu uns?
So wie die biblischen Lesungen zu uns reden.
Zum Beispiel Matthäi am letzten. Matthäi am Letzten klingt in diesem Zusammenhang fast wie ein Wort über diese Kirche selber. Sie war ja auch schon mal so weit, als die Nazis sie für ihr Germania abreißen und in Spandau wieder aufbauen wollten. Dazu kam es dann doch nicht.
Ich habe aber sowieso nie verstanden, warum meint, bei Matthäi am letzten sei alles aus. Das Gegenteil ist doch der Fall: Damit sollte es überhaupt erst losgehen.
Wir haben doch gerade gehört, wie es eigentlich sein sollte: gehet hin alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker, taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Der große, zweite Exodus. Bis an den Rand der physischen Welt..
Das war einmal. Das ist jetzt vorbei. Und das gehört auch zur Reformation.
Jetzt sitzen wir hier in unserer kunstreich verzierten Kiste, umgeben von all jenen Völkern, zu denen wir einmal gesandt worden waren.
Gelähmt, weil man uns zu Jüngern Allahs machen will. Islam state for Britain ist so eine muslimische Nachricht aus Matthäi am Letzten: Mit fast 2000 Moscheen in the United Kingdom, unzähligen islamischen Schulen, Madrassas, Halal Schlachterein und Restaurants im ganzen Land befindet sich England bereits auf der Schwelle zu einem islamischen Staat. Es ist nur eine Sache von Augenblicken, bis die schwarze Fahne des Islam über Downing Street ten weht.
Das ist die Botschaft. Die sich auch gegen die Nachricht durchsetzt, die vielen Bomben von Gilbert and George seien schließlich nur Lachgasampullen, die einer desillusionierten Jugend einen quasi religösen Kick geben. East London als ein durch und durch bekifftes Viertel, sei es nun religiös bekifft oder bekifft ohne Religion..
Doch so gern die Erklärungen Richtung Ampullen gehen: die Bomben sehen aus wie Bomben, die Verschleierungen wie kriegerische Uniformen und die Heldenpose der beiden nigerianischen Männer, nach dem sie den englischen Soldaten auf offener Straße massakriert hatten, bleibt die islamische Bedrohung gegen die nicht islamische Gemeinschaft: Wir gehen hin und machen zu Jüngern Allahs alle Völker.
Verbunden mit dem drohenden aller Untertöne. Der Posaune des jüngsten Gerichts.
Wenn wir solche Töne hören, was regen sie in uns an?
Erinnern sie uns daran, dass wir nur Untertanen, Sklaven, Gefangene und Knechte Christi sind. Mit ihm sterben und auferstehen wir. Sonst aber sind wir frei: offen, mutig, frei, Freie Subjekte. Weil Christus uns zur Knechtschaft befreit hat. An ihn gebunden - sind wir zu allem anderen frei.
Das ist unsere Erwählung.
Wie Gott Israel als Volk erwählt hat.
Uns hat Christus nicht als Volk erwählt, weil wir als Christen nicht geboren werden, sondern mit ihm sterben und wiedergeboren werden.
Wir sind wohl Kirche Jesu Christi, aber nicht das Volk Gottes.
Israel hat er erwählt als sein Volk.
Denn du bist ein heiliges Volk, dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr, dein Gott erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der Herr erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker - denn du bist das kleinste unter allen Völkern, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat.
Scapegoating pictures ist das Leitbild, das uns umgibt.
Auch Sündenböcke werden erwählt. Herausgerufen aus der Vielzahl der anderen, mit schweren Aufgaben geladen und auf ihren einsamen Weg geschickt.
Die Parallele zu Israel ist unübersehbar.
Die Frage, die hier im Raum hängt: kann man Sündenböcke vermeiden, findet eine einfache Antwort:
Nein, denn Sündenböcke über nehmen eine Arbeit, auf die wir nicht verzichten können.
Du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden sagt Gott selbst zu seinem Volk
Sündenböcke - und ob sie sich vermeiden lassen.
Ich glaube nicht.
Ein auserwähltes Volk trifft es immer und immer wieder. Denn es trägt mehr als die anderen. Wir sehen es täglich vor unseren Augen. Mit unseren Augen schauen wir vielleicht schon wie die Gestalten an den Wänden: Leer und über alle und alles hinweg.
Jetzt ist Israel der Sündenbock, dem alles Elend der islamischen Welt aufgeladen wird. Nicht nur von der muslimischen Welt.
So viele sagen, erst wenn Israel aus dem Nahen Osten verschwunden sei, hätte der Frieden eine Chance.
Das Gegenteil dürfte der Fall sein: Dann erst könnten die verfeindeten islamisch Brüder noch ungehinderter übereinander herfallen. Bisher bewahrt Israel sie vor Schlimmerem.
Dank dafür wird es nicht geben. Sündenböcke tun ja nur das, was sie müssen. Und die Funktion Israels im vorderen Orient ist eben die Aufgabe eines Sündenbocks. Der auch in der höchsten Not nicht seine Herkunft leugnen kann, auch wenn er es wollte.
Denn er ist geboren und auserwählt.
Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Lesung am Karfreitag. Worte, über die sich unsere Augen öffnen und wir den erkennen, der für unsere Sünden gestorben ist. An unserer Stelle
Das ist er, der unsere Sünden trägt. Der für uns geschlagen und gemartert und getötet wurde, damit wir leben. Der Sündenbock Jesus. Wiederentdeckt in den Worten des Propheten Jesaja: Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Das ist der entscheidende Diebstahl. Der größte von allen.
Gott nimmt uns unsere Sünden, damit sie nicht anderen aufbürden. Damit wir leben.
Diebstahl hat immer etwas Befreiendes
Aber nie so wie hier.
Amen.