Es sind jetzt etwa 15 Jahre vergangen, dass Hans Eckehardt Bahr in der Jeremia-Gemeinde hier in Spandau seinen Vortrag "Wo wrarst Du, lieber Vater?" hielt. Das war sein mutiger Versuch, das Bild des Vaters wiederzugewinnen, das die NS-Zeit ihm so verdunkelt hatte. Seine Zuhörer hatte er damals sehr gerührt. Mich eher verstört. Ich war sicher, so nicht nach meinem Vater fragen zu können.
Vor zwei Jahren ist Hans Eckehardt an seinem 91. Geburtstag verstorben. Für mich und meine Frau schrecklich überraschend, weil wir über die ausbleibenden Lebenszeichen von ihm und seiner Frau Rosemarie gedankenlos hinweggegangen waren. Nun erfuhren wir mit der Nachricht von seinem Tod auch, dass Rosemarie noch vor ihm gestorben war. Am sechsten Februar wäre er 93 Jahre alt geworden. ,Wir waren dankbar für seine Freundschaft und sind doch so achtlos damit umgegangen.
Das darf mir nicht wieder passieren, denke ich, und bin doch mittendrin.
Der Geburtstag meines Vaters jährt sich heute zum 111. Mal. Tatsächlich wurde er nur 32 Jahre. Nun sind fast 79 Jahre vergangen, bis mir überhaupt einmal die Idee gekommen ist, auch selber diese Frage zu stellen: "Wo warst Du, lieber Vater?".
Vielleicht erinnert sich jemand an die Klage aus Hans Jürgen Syberbergs "Hitler, ein Film aus Deutschland": Dass wir keine Sonnenuntergänge mehr sehen können, weil Du, Hitler, uns die Freude an wogenden Kornfeldern verdorben hast. Du hast den Dingen die Unschuld genommen.
Und mir das Vaterbild.
Mein Vater ist fünf Monate vor meiner Geburt gefallen, genauer gesagt, da wurde er zuletzt gesehen. Irgendwo vor Moskau. Nie bin ich ihm bis dahin gefolgt. Nie habe ich mich in Gedanken auch nur einen Tag bei ihm aufgehalten. Aus Erzählungen weiß ich, dass unsere Mutter zu allen überlebenden Kameraden gefahren ist, um zu erfahren, was geschah. Aber es blieb beim "vermisst" , bis wir 10 Jahre später oder mehr die Hoffnung seiner Rückkehr aufgaben. Nun war auch er 'gefallen'
Die Barrieren waren hoch, die mir den Zugang zu "Wo warst Du, lieber Vater?"verstellten: Ich kannte meinen Vater nur von Photos. Außerdem: Man fiel nicht für den Führer, nur gegen den Führer. Man ging auch nicht in den Krieg, wenn man, wie mein Vater 2x unabkömmlich gestellt war: Als Meteriologe und als Beschäftigter in einem kriegswichtigen Betrieb: Leineweberei Delius in Versmold (Westfalen). Man las in seinem Leben auch nicht nur ein einziges Buch (Jürnjakob Sven, der Amerikafahrer), wie meinem Vater nachgesagt wurde. Mag sein, dass es sogar stimmt, denn hauptsächlich las er Noten. Er war Musiker, Chorleiter, Maler, ein vorzüglicher Photograph. Er war ein schöner Mann, schwarze Locken, gut gekleidet all'italiana. Eitel. Unsere Mutter meinte, es habe Stunden gedauert, bis alle Volraussetzungen stimmten, dass er sich photographieren ließ. Autodidakt in allem. Was musste er da Richtung Moskau ziehen.
Es hieß, aus Angst vor den Nachbarn. Die Nachbarn musste er damals eingeteilt haben in 'Weltfeind Nummer 1, Weltfeind Nummer 2 undsoweiter. Er fühlte sich von Feinden umstellt: Prokurist in der Firma, Künstler durch und durch, ein Pfau unter Tölpeln, die ihm drohten: Wenn einer was gegen den Führer sagt, den bringe ich an den Galgen. Und wenn es mein eigener Bruder ist.
Mein Vater hatte Angst, als 'Drückeberger' denunziert zu werden. Hätte er mehr gelesen, hätte er weniger Angst gehabt? Darum habe ich soviel gelesen. Ob es wirklich das Mittel gegen Angst ist - ich bin mir nicht sicher. Bestimmt hatte er Angst um seine Familie, um seine Frau und seine Tochter und um mich, von dessen kommender Geburt er wußte. Denn die Nachbarschaft war wirklich zu fürchten. Unser Hausarzt, der bisweilen nicht nur unser Leben aufs Spiel gesetzt hat, sondern auch das seine, entkam nur knapp dem KZ: Er betrat eine Gaststätte, sah einen Patienten am Tresen sitzen und sagte "Na glauben Sie noch an den Endsieg?". Antwort: "Gewiß Herr Doktor!". Der Arzt: "So doof sehen Sie auch aus!" Verhöre etc waren die Folge, zum Schluss rettete ihn der behauptete Suff. Der war auch bei den Nazis ein mildernder Umstand.
Mein Vater trank aber nicht. War und ist schlecht für die bella figura. Und brachte ihn weit fort von NS, SA und anderen notwendigen Stammtischen, um sichs zu richten.
Das alles hatte er nicht zur Verfügung. Darum meldete er sich frewillig, Schnellkurs in Belgien, 4 Wochen, dann ab nach Russland. Nach 10 Tagen während einer nächtlichen Aufklärungsaktion vermisst.
Meiner Schwester hat er einen 20 Seiten langen Liebesbrief geschrieben. Sie war seine zweijährige Tochter. Die Zensur hatte ihn nicht daran gehindert zu schreiben, dass dort, wo er war, kein hoffnungsvoller Ort sei. Aber dort hatte er wohl weniger Angst als in seiner Kleinstadt.
Wie gut wäre es ihm ergangen, wäre er, wie ich, sein Sohn, 1943 geboren worden. Mit seinen Gaben und Talenten. Und diesem bewundernswerten Talent, von dem bisher nichts zu ahnen und nun Notiz gegeben werden soll:
Einen Sonntag, Mitte des Monats, konnte er aus einer Laune heraus zu seiner Frau sagen: Komm, lass uns rausfahren. Zu dritt ging es mit der Bahn in den Teuteburger Wald, Mittagessen in einer Gaststätte, abends glücklich wieder nach Hause. Auf der Rückfahrt sagte er dann: "So, das war jetzt das letzte Geld in diesem Monat."
Dieser Streit zwischen Prokurist und Künstler in Ihm, was war das für eine wunderbare Hinterlassenschaft. Nur zu wenig, einfach zu wenig.