Kainszeichen Carl Gustav Jung - Wotan (1936) Einführung
Montag, 4. Juli 2016
Ich möchte Sie ganz herzlich zu unserem Leseabend begrüßen. Diesmal mit einem Text des Psychotherapeuthen Carl Gustav Jung.
Das ist zugegeben ungewöhnlich.
Denn seine Texte weisen selten den Vorleser und seine Zuhörer hinreißend literarische Qualität auf.
Im Unterschied etwa zu der literarischen Prosa Sigmund Freuds.
Aber Freud haben wir heute nicht auf.
Außerdem erinnere ich mich an jenen Versuch, Texte von Freud während des internationalen literaturfestivals zu lesen. Das war trotzdem nicht ganz leicht.
Nun also dieser Roland Schäfer herausfordernder Versuch, mit Wotan.
Für diejenigen unter Ihnen, denen Zweifel kommen sollte: Wotan ist keine Figur aus der biblischen Erzählung von Kain und Abel. Trotzdem haben wir diesmal ihn gewählt.
Der Grund dazu ist einfach und leuchtet aus der bisherigen Wahl unserer Texte und Autoren ein. Uns wenigstens leuchtet die Wahl ein.
Wir suchen nach literarischen Beispielen, in denen religiöse Erzählungen für die Erkenntnis der eigenen Lage eine Hilfe geworden sind.
Ich nenne als eindeutige Beispiele Theodor Fontanes Roman "Unterm Birnbaum" und Margaret Susman - Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes.
Theodor Fontane beschreibt die Bewohner des Oderbruchdorfes Tschechin. In ihm geschehen zwar zwei Morde. Die können aber dem Gefühl des Unschuldigseins der Bewohner nichts anhaben. Nur konsequent, dass bei Fontane der Mörder Abel heißt, der paradiesische Apfelbaum ein Birnbaum ist. Die kumpaneiartige Selbsterlösung der Dorfbewohner hält für den heutigen Leser einen unheimlichen Blick in die damalige Zukunft bereit.
Ich erinnere mich dann an die heftige Diskussion nach der Lesung, in der unter anderem ein Zusammenhang mit der Erzählung von Kain und Abel kategorisch bestritten wurde. So heftig, dass wir gänzlich unversöhnt auseinandergingen.
Als zweites Beispiel möchte ich einmal nicht an Joseph Roths Hiob erinnern, sondern an Margaret Susman und ihren Esaay Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes.
Zum Ende der Schreckensjahre geschrieben, 1946 in der Schweiz publiziert, versucht die Schriftstellerin, Journalistin, Lyrikerin und Philosophin mit der Hilfe der Hiob-Erzählung zu verstehen, was ihrem Volk geschehen ist. Und warum es ihm geschehen ist:
Was habe ich getan, was habe ich nicht getan, was willst Du von mir? Das sind ihre Fragen, die sie Gott stellt. Und sie entdeckt die Schuld des eigenen Volkes. Man hatte ihr vorgeworfen, aus der Sicherheit der Schweiz heraus gut schreiben zu können. Das sah sie genau so, und litt darunter.
Ihre Antwort fand sie in Hiob: Hiob, der gedachte, sich durch persönliche Schuldlosigkeit der allgemeinen menschlichen Schuld zu entziehen. Am Ende fand er seinen Weg in die schuldige Menschheit, in die universale Gemeinschaft der Schuldigen.
Vielleicht liegt hier, im Thema der Schuld, der Grund, dass sich dieses große Schweigen über Margaret Susman in Deutschland ausgebreitet hat.
Sie war die Freundin von Georg Simmel, von Ernst Bloch, von Bernhard Groethuysen, von Martin Buber und Gustav Landauer und später von Paul Celan. Sie schrieb die erste Deutung des Werkes von Franz Kafka, die erste Rezension von Rosenzweigs Stern der Erlösung, Landauer wollte sie in seine Münchener Räterepublik rufen, aber er kam zu spät, sie arbeitete mit dem religiösen Sozialisten Leonard Ragaz in der Schweiz zusammen, in die sie sich 1933 geflüchtet hatte.
Es lässt sich kaum eine Schriftstellerin finden, die so sehr eingebunden war in die deutsche Kultur des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhunderts, die dann so vollständig daraus verschwunden ist.
Ich habe jetzt ein paar Worte mehr über Margaret Susman gesagt, damit deutlich wird, dass wir nach der Frage, wie konnte dies geschehen und was ist da eigentlich geschehen, den Grund noch nicht erreicht haben.
Ein Rätsel will ich Ihnen noch mitgeben, ehe ich weitergehe. Eli Wiesel hat darauf aufmerksam gemacht. Hiob, der große Dulder, war gar nicht allein. Die Erzählung weiß noch von seiner Frau zu berichten. Allerdings kennt sie ihren Namen nicht.Gleich zu Beginn der Leiden fordert sie Hiob auf, Gott zu verlassen. Doch als ihr Hiob solche Reden untersagt, schweigt sie. Aber bleibt bei ihm: Verliert mit ihm zusammen Haus und Hof, allen Reichtum, alle ihre Kinder, die Freude des Lebens und des Leibes. Bis sie zum Schluss sein neues Glück teilen darf.
Das Ungesagte erkennen und aussprechen. Das gehört mit zum Ergründen.
Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.
Die älteren von uns sind mit diesem flotten Spruch groß geworden: Max
Horkheimer. Das wurde irgendwie unser Tor zur Schuldlosigkeit. Da sind wir alle hindurch.
Wie aber redeten wir vom Kapitalismus und vom Faschismus? Nur als den äußeren Feinden, die es zu bekämpfen galt. Äußerer Feind - das war entscheidend.
Erinnert sich noch jemand, welche Wut damals Syberbergs "Hitler in uns" auslöste. Wenigstens in Deutschland. Frankreich und Amerika verstanden das anders. Das ist heute nicht anders, denke ich.
Walter Benjamin hat es in einem Fragment auch auf die Formel zu bringen versucht: Der Kapitalismus in uns. 1921 geschrieben.
Benjamin sagt zu Beginn: Universalpolemik gegen meine These ist gewiss, denn wir können das Netz nicht zuziehen, in dem wir stehen.
Wir schaffen das Gegenüber nicht. Der Kapitalismus in uns und wir in ihm.
Ich skizziere den Gedankengang:
Kapitalismus als Religion ist reine Kultreligion, ohne Dogmatik, ohne Theologie.
Als Kult ist er von permanenter Dauer. Es gibt keinen Wochentag und keinen Sonntag. Es ist immer Kirche, sozusagen.
Drittens ist der Kultus verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.
Kapitalismus als Religion, die ein ungeheures Schuldbewusstsein universal macht, um schließlich Gott selbst noch in den Schuldzusammenhang zu verstricken. Das Ziel ist ein Weltzustand der Verzweiflung, die völlige Verschuldung Gottes. Religion wird zur Zertrümmerung des Seins. Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist in das Menschenschicksal einbezogen. Bis ans Ende der Zeiten muss er verheimlicht werden.
Religion ist Schicksal.
Wenn wir aber unser Schicksal in die eigene Hand nehmen, was ist dann mit der Religion?
Voriges Jahr hätten wir die Antwort darauf lesen können.
Die Antwort war diese GOTT IST DOOF
Das dritte Zitty - Heft im Jahr 2015 fiel mit dieser besonderen Titelseite auf. Ich bitte im Voraus um Entschuldigung, denn das Niveau lässt zu wünschen übrig, erleichtert aber so den Einstieg. Sozusagen auf Augenhöhe.
In Sachen Religion kann man heute froh sein, wenn man übers Souterrain hinauskommt.
Zum Heft Zitty 3/2015
Der Hintergrund auf dem Titelblatt ist Pechschwarz, wie der Himmel ohne Gestirne, oder schwarz wie ein Priestergewand.
In Weiß sieht man in der oberen Hälfte vier schematisierte Kirchtürme: einen mit einem Davidsstern, einen zweiten mit einem Kreuz und einen dritten mit einem Halbmond: die drei Religionen. Darunter drei Kästchen der Wahl, aber niemand hat dort sein Kreuzchen gesetzt. Der vierte Turm ist hingegen eine als Kirchturm getarnte Bleistiftspitze. Darunter findet sich das Kreuzchen.
Und darunter steht in großen weißen Blockbuchstaben: Gott ist doof.
Und kleiner als Untertitel
Islamisten, Pegida, Eiferer:
und darunter
Warum Berlin gar keine Religion braucht.
Islamisten gehören zum Halbmond
Pegida gehört zum Kreuz
Eiferer zum Davidsstern
Eine gewisse Verlegenheit bei dem Versuch der Zuordnungen scheint die Blattmacher befallen zu haben.
Der darauf folgende Artikel endet mit der Hoffnung, doch einmal alle Religionen verstummen zu sehen. Anlass sind die Radikalen in den Religionen. Thomas Winkler ist der Autor
Er schreibt: Es könnte ja sein, dass 99,9 Prozent aller Muslime friedlich seien. Das stimmt zwar, hält aber die 0,1% nicht davon ab, seine Mitmenschen notfalls mit Gräueltaten von den eigenen Überzeugungen überzeugen zu wollen.
Darum sollte man alle Religionen abschaffen, denn die Front verläuft letztlich zwischen den Ideologen und den Libertären, denen nichts heilig ist, außer ihrem Recht, nichts heilig finden zu müssen.
Das ist das Religionsbefreiungsprogramm. Das sei aber gar nicht so einfach.
Das Recht, nichts heilig finden zu müssen, will erkämpft sein. Und zwar Tag und Nacht. Denn Freiheit von Religion ist beileibe kein Spass.
Ich zitiere den Schlussakkord des Artikels:
Aber Vorsicht. Es ist ganz schön anstrengend, seine Zwangsjacken abzulegen. Ein postideologisches Leben hält keine einfachen Antworten mehr bereit, keine vorgefertigten Argumente, keine kuschelige Gedankensicherheit. Die absolute Freiheit ist kein Zuckerschlecken, sondern eine verantwortungsvolle Aufgabe. Jeden Tag, jede Minute, wenn es sein muss, müssen wir bereit sein, unsere Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Unsere Meinung zu verteidigen. Die Freiheit, die echte Demokratie und echter Pluralismus versprechen, ist vor allem das Ende des Rechts auf gedankliche Faulheit. Aber irgendwann vielleicht werden die Gebetsmühlen dann für immer verstummen.
In der Welt hat damals jemand darauf geantwortet, Gott ist doof hätten die Nazis auch immer gesagt. Aber diese Antwort macht nicht soviel Freude wie die Überlegung, was denn Thomas Winkler seinem Gottlosen bietet:
Ein Leben ohne Zwangsjacke (Ideologien), ohne Schutzkleidung
ohne vorgefertigte Argumente
absolute Freiheit als verantwortungsvolle Aufgabe
jeden Tag, jede Minute auf dem Prüfstand
und das Ende der gedanklichen Faulheit.
Ein, alles in allem, ungemütliches Leben wartet auf den, der so wählt. Noch dazu in nacktem Zustand. Jeder Schutz und jede Schutzkleidung ist ihm entzogen worden. Der Mensch nicht als factum brutum, sondern als homo netto, ohne jede Verpackung.
Wind und Wetter ausgesetzt, ohne Heimat, unbehaust - ein Flüchtling, von dem erwartet wird, das er standhält.
Mir kommt der Winklersche Mensch vor wie der edle Wilde Afrikas des 18. Jahrhunderts. Das ist er nicht mehr, in Berlin soll er nun wieder ins Leben gerufen werden.
Nackt kämpft er gegen den Feind. Tag und Nacht, jede Stunde, jede Minute.
Gegen das Doofe.
Das Doofe kommt von außen und tritt ihm entgegen.
Der Schwache erliegt ihm. Der Starke widersteht.
Den Träumer überwältigt es, dem Wachen kann es nichts anhaben.
Wer sich auf seinen Helm, seine Rüstung, seinen Schild und sein Schwert verlässt, der ist schon das Opfer der Unfreiheit geworden.
Nur wer Zwangsjacken abgelegt hat ist zur neuen Freiheit berufen.
Denn der Feind steht mir gegenüber. Bin ich aber wach und bewege mich leicht, weil mich nichts einengt - dann kann ich seinen Streichen entgehen.
Darum ist es unbedingt wichtig, fit zu sein. Agil am Geist, dem ein trainierter Körper dient. Oder, wie ein Berliner Arzt fordert: Fit in die Urne.
Das wäre der Sieg bis ans Ende, wenn nicht gerade wir eine Ahnung bekommen hätten, dass das Doofe nicht nur als Feind uns gegenübersteht, sondern das wir dies in uns selber tragen.
Davon weiß der Autor aber nichts.
Und dass es überhaupt nichts hilft den Menschen bis auf die Unterwäsche des Glaubens zu entkleiden - wo er seine gefährlichen Waffen ja unter der Haut trägt.
Das hat C.G.Jung auf Wotan gebracht. Zum Wotan in uns.