Komm lieber Mai und mache
die Bäume wieder grün - und weniger braun, auf keinen Fall weiß.
Deutsche Gedanken zum 8. Mai
Heute begehen wir den 8. Mai als den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Ein maliger Feirertag in Berlin-Brandenburg. Das war in den vergangenen 75 Jahren bekanntlich nicht immer so. Als ich in den achziger Jahren in Kreuzberg predigte, hieß der Tag bei vielen der Tag der Kapitulation. Manchmal sagte ich auch "Tag der Befreiung vom Faschismus". Indem ich mich eines ausländischen Begriffes bediente, wollte ich durchaus nicht sagen, der Nationalsozialismus gehöre nicht zu Deutschland. Im Gegenteil.
Aber leicht fällt es nicht, die gegenteilige Position zu beziehen, wenn man irgendwie doch dazugehört. Und das tue ich ja - wenn auch widerwillig und voller Ratlosigkeit.
Solange man im Netz gefangen ist, kann man es selber nicht zuziehen. Die Wahrheit dieses Satzes wird uns nicht mehr verlassen.
Heute sprechen die meisten vom 8. Mai als dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Vierzig Jahre später hat diese Formulierung jedoch viel von ihrer Sprengkraft verloren. Es ist jetzt undeutlicher, was an dem Tag 1945 befreit worden sein soll. Saßen wir Deutschen in einem Gefängnis und die Alliierten haben uns daraus befreit? Waren wir Sklaven einer brutalen Herrenrasse, die am Ende des Krieges von einer siegreichen Macht hinweggefegt worden ist. Und wir waren frei?
Oder hatten wir, wie Herr Keuner, der Gewalt 12 Jahre lang stumm gedient, um zum Schluss ihren Kadaver mit einem befreienden Nein aus dem Fenster zu werfen? Fast eine Selbstbefreiung von einem Okkupator?
Wer alles wurde befreit: Wurden allein die Gefangenen befreit oder auch ihre Wärter mit ihnen? Saßen wir alle in einem Boot?
Wurden wir am 8. Mai 1945 befreit oder haben sich die anderen von uns befreit? Der 8. Mai als Befreiung von den Deutschen.
Wenn das nicht klarer wird hat es auch keinen Sinn, immer wieder laut NIE WIEDER! zu fordern.
Wir sind ja geblieben. Vielleicht sind wir nicht ganz dieselben geblieben, die wir waren. Aber die ganz Anderen sind wir nun auch nicht geworden.
Wie wird man überhaupt ein anderer? Und wie sieht man dann aus? Ab wann ist so ein Wechsel glaubwürdig? Für die anderen und dann für uns selbst?
Von uns Deutschen sagen die anderen: Die wissen selbst nicht, wer sie sind.
Schwanken wir nicht sowieso zwischen 'verzweifelt man selbst sein' und 'verzweifelt ein anderer sein wollen'?
In den 15 Jahren, die ich in den Regionen Italiens Sizilien, Piemont und Campanien als Pfarrer gelebt habe, gab es ganz viele Deutsche, die partout anders sein wollten. Besonders Frauen, die einen italienischen Mann gefunden hatten. Oft hatten sie sich dazu Löwenmähnen wachsen lassen, besonders im Süden, fuhren sich entsprechend wild oder aufreizend mit den Händen durch die Haare. Gestikulierten heftig mit den Händen und redeten laut. Manchmal hörte ich dann eine Tochter sagen: "Mamma, fai fatica inutile - Mamma, du strengst dich unnötig an." Es wird nichts. Das Maximum wird sein, dass man nicht mehr die Eine ist, aber auch nicht die Andere geworden ist. Keine Deutsche mehr - und noch keine Italienerin.
Jetzt lässt sich die Frage des Befreiungstages besser stellen, nämlich: Haben wir uns befreit, sind wir befreit worden, von dem, was in uns, was an uns zum Nationalsozialisten gehörte? Und wer sind wir jetzt? Können wir sagen, wir werden nie wieder von der Art sein, wie wir einmal welche gewesen sind?
In Neapel bat mich eine Französin, ihr auf einer Postkarte zu beantworten, warum die Deutschen das europäische Judentum vernichten wollten. Obgleich ich unsicher war, habe ich doch geantwortet: Weil wir Deutschen uns für unschuldig genug hielten, eine solche Untat auszuführen, ohne Schaden an unserer Seele zu nehmen.
Erst im katholischen Italien habe ich dann auch die eine Zielrichtung der Reformation schärfer gesehen: Luthers Beharren, dass wir als Christen zugleich Gerechtfertigte und Sünder seien, war seine Antwort auf unsere Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit. Ein theologischer Wall gegen das Auserwähltsein. Vielleicht hat er bis zum Ende des ersten Weltkriegs gehalten. Doch hatte Luther dessen Schutz selber geschwächt, als er die Dynamik von Beruf und Berufung entwickelte. So ging der Protestant zur Arbeit wie in einen Gottesdienst. Daß Arbeit frei mache, war zwar eine Parole aus der katholischen Arbeiterbewegung, aber im Grunde eine sehr deutsch-lutherische Idee. Sie löste die Idee der glücklichen Schuld ab und ersetzte sie durch erarbeitete Unschuld.
Franz Josef Strauss wurde der Kernsatz zugeschrieben (zitiert von Karl Herold - Frankfurter Rundschau): Ein Volk, das so viel gearbeitet hat, wie das deutsche, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu müssen.
Ein beinahe beseite gesprochener Nachweis von der Überlebenskunst der fünffachen KZ-Überschrift. Das ist seit der Reformation ein Zentrum unseres Selbstverständnisses gewesen. Daran wurde auch nicht gerüttelt, als wir uns daran machten, unsere Verbrechen ans Licht zu bringen und auf jede nur denkbare Weise zu verurteilen. Nur an diesem Prinzip, dass Arbeit frei mache, wurde nicht gerüttelt.
Doch da hat sich etwas verschoben. Die Leichtigkeit, mit der Millionen von Arbeitern in der Coronazeit die Arbeitsplätze gesperrt wurden, zeigt deutlich: Arbeit rechtfertigt nicht mehr unser Leben. Arbeit macht uns nicht unschuldig.
Haben wir uns aber so sehr von uns selbst befreit, dass wir auch als Schuldige glücklich sein können? Dann wäre der 8 Mai und seine anschließenden Anstrengungen tatsächlich ein Tag der Befreiung geworden: von unsere Mission, Unschuld in die Welt zu tragen. Die Zeichen der Zeit weisen leider in die Richtung, aus der wir kommen:
Wir wollen uns nicht schuldig machen durch Atomenergie, Wir wollen nicht schuldig werden durch Diesel-Umweltbelastung, durch Tierversuche, durch technologischen Fortschritt, durch Grenzschließungen und Selbstschutz.
Wir machen im Grund da weiter, wo wir am 8. Mai 1945 aufhören mussten. Wer hätte denn auch je geglaubt, dass eine Befreiung bis in solche Tiefen vordringen könnte.
Wir wissen halt nicht, wer wir sind.
Das wird sich so bald auch nicht ändern.