Am Montag, den 7. März 2022 haben wir nach zweijähriger Pause unsere Veranstaltungsreihe wieder aufgenommen. Roland Schäfer las umfangreiche Teile des Romans, eine Weißweinpause sorgte danach für eine lebhafte Diskussion. Mit dem Autor.
Wolf Christian Schröder, Die Weißweintrinker, Roman, PalmArtpress, Berlin 2020
Diesmal haben wir uns über so viele Absagen gefreut. Nicht darüber, dass so viele nicht gekommen sind, sondern sich gemüßigt sahen abzusagen. Absagen gehört in Berlin nicht zum guten Ton. Wenn doch, dass ist das ein Zeichen starker Verbundenheit. Es war gut, die lange Durststrecke mit den Weißweintrinkern zu beenden. Schließlich überstieg die Zahl der Gekommenen die der Absagenden.
Nachstehend: die aus dem Roman gelesenen Texte
7-11 Prolog König, Österreicherin, Idiotenstimme, Johannes
13-25 Kap. 1 König, Paulus (Pfahl im Fleisch) Idiot , Eltern, Stift, Idiot (s.17-19)
37-43 Kap. 4 die unmögliche Trennung von Maria, der schwächelnde Idiot
50-51 Kap 6 Die Geste Königs
95 - 97 Kap 15 Selbstmord, Idiot
122 - 130 Kap 19-20 Prüfung, Zischler
140-145 Kap 24 Das GEBET DER Ungläubigen
217-218 Kap. 38 Annahme verweigert
Nach dem Prolog
Ab geht es jetzt nach Tübingen und zum Theologiestudium für König, von dem wir gerade gehört haben, und für jenen Flugkünstler, der sich dabei ein blutiges Mal auf der Stirn geholt hat. Das wäre aber nur dann ein Kainszeichen, wenn er selber Abel wäre.
Es handelt sich bei den beiden um zwei unzertrennlich Verstrittene. Sie heißen beide Johannes. Wenn ein Johannes der Literatur Theologie studiert, fragt man sofort: welcher Johannes ist es denn: Der unterm Kreuz, der in der Wüste, der der Apokalypse oder der des Evangeliums. Hier wird die Antwort dadurch erheblich erschwert, dass es zwei davon gibt. Als Dioskurenpaar sollten sie ins berühmte Tübinger Stift einziehen.
Die Dioskuren, einer göttlicher Herkunft, der andere sterblich, bleiben auch noch nach dem Tod des sterblichen Kastor unzertrennlich, in dem sie zusammen einen Tag in der Unterwelt und den anderen Tag im Olymp wohnen.
Das Stift ist eine der lutherischen frühen Kadettenschulen für damals 150 Theologen. So wollte man eine einheitliche Theologie im Schwabenland garantieren. Das Stift gibt es von 1536 bis heute. Untergebracht in dem ehemaligen Augustinerkloster am Neckar hat es nicht nur 500 Jahre durchgehalten. Mit dem Dreigestirn Hegel, Schelling und Hölderlin beherbergte es einmal das Maximum an geistiger Hoffnung Deutschlands. Vor ihnen war Johannes Kepler Stiftler, wenn auch ungern, nach ihnen kamen noch Ferdinand Christian Baur und David Fr. Strauß als Theologen, Gustav Schwab und Eduard Mörike. Mörike hätte das Zeug, einem der beiden Johannes zum Vorbild zu dienen. War aber ein schwäbisches Urgestein, das man besser da lässt, wo es liegt.
Johannes, mit Nachnamen König, zieht als große Hoffnung der geistigen Welt ins Stift, der andere in die Südstadt. Der Neckar trennt ihn so vom Stift. So eine Art Styx, oder eine Art Jordan, der das Land der Philister vom gelobten Land trennt. (Wie der Rhein Frankreich von Deutschland)
Außer den beiden Johannes gibt es noch den Idioten und seine Stimme. Der Idiot ist eine uns sehr vertraute Gestalt zum Beispiel als Fürst Myschkin. Der Idiot, sagt Benjamin über ihn, das ist die Jugend, ist das unsterbliche Leben, das Russland nicht bei sich behalten, nicht in sich aufnehmen kann. Das hört sich an, wie ein Schlüssel, der die Tür auch zum heutigen Russland aufschließt.
Meines Erachtens ist das auch hier eine Hilfe zum Verständnis, was im Idioten aufbewahrt ist, das sich nicht verwirklichen kann. Darum achten Sie auf die Stimme des Idioten in diesem Roman.
Ehe es mit Roland Schäfer in Tübingen weitergeht, noch drei Sätze zu uns Dreien. Zwei Jahre haben Roland Schäfer und ich als Kainszeichen- Duo geschwiegen. Wegen Corona und anderer Geschichten. Das war hart.
Wie wir alle wissen, kann im Lauf von zwei Jahren sehr viel passieren. Man kann in dieser Zeit auch sehr viel vergessen. Darum will ich Sie daran erinnern, dass Rolland Schäfer auch die heutige Textfassung vortragen wird, wie zuvor im zehnjährigen Leben von Kainszeichen. Vortragen ist dabei ein sehr treffender Ausdruck. Die Texte, vorgetragen, bekommen einen Körper, ein Gewicht, eine Leichtigkeit, eine Gestalt. Schöpfung durch das Wort.
Das sind Verkörperungen, sichtbare Texte. Erscheinungen, Epiphanien. Wiedergeburt eines Textes.
Zwei Jahre war Pause, nur Fernsehen, jetzt ärger denn je. Abendlich schauen wir zu, wie der Mord an einem Volk fortschreitet. Dass wir nichts machen können, macht uns noch nicht zu Unschuldigen.
Ein Mensch wird geschlagen und der zusieht, wird ohnmächtig. Wenn aber die Untat kommt, wie der Regen fällt, dann ruft niemand mehr Halt. Das haben wir noch vor uns und wir können uns darüber nicht trösten. Im Gegenteil, die Gewalt als Naturereignis wird uns stumm machen.
Wenn wir im Krieg vom Frieden reden, dann ist es zu spät. Wir müssen in Friedenszeiten schon vom Krieg sprechen, als eine kluge Abschreckung. Wie Matthias Claudius in seinem Kriegslied. Da war noch kein Krieg.
‚s ist Krieg, ‚s ist Krieg Oh Gottes Engel wehre
und rede du darein.
‚s ist leider Krieg und ich begehre
Nicht Schuld daran zu sein.
Eine überwältigende Strophe. Karl Kraus, der Matthias Claudius für einen der größten Schriftsteller hielt, schon weil er, wie er seine Fackel, allein seinen Wandsbecker Boten herausgab. Karl Kraus sagt: Nie gab es einen treffenderen Komparativ von Leid als in diesem ‚s ist leider Krieg. Und - würde ich fortfahren, so umfassend ist das Begehren nicht aufgerufen worden als in diesem „und ich begehre nicht Schuld daran zu sein.“ Keine Gewissheit, keine Behauptung -.
Nicht verantwortlich!
Das finde ich, ist jetzt das Schlimmste. Kein Scheitern, kein Unglück, kein Krieg - für den wir nicht geradestehen sollen. Es gibt schon jetzt keine Auszeit mehr: wie Gottfried Keller meinte: es ist alles politisch - jede Schindel auf dem Dach usw. Und wie wir gerade erleben, nichts ist mehr nicht-politisch.: die olympischen Spiele, die Krankheit, der Urlaub, die Kunst - überall tragen wir Verantwortung, überall droht Anklage wegen Scheiterns. Womit trösten wir unsere Jugend, wenn das Klimaziel verfehlt sein wird? Sollen wir nicht jetzt schon sagen:; „und ich begehre,. Nicht Schuld daran zu sein“ ?
Ein Drittes: Im Unterschied zu unseren Hilfsmitteln, die zur Zeit ein Marschflugkörper gegen den Bunker Putins sein könnten, in dem er sich gerade aufhält, die Faust Gottes, mit der er das Übel auslöscht, weiß Matthias Claudius als größte Hilfe den Engel Gottes, der dareinreden möge. Worte helfen, Worte sind Taten, und Gott sprach und es wurde.
Als erste Wiederaufnahme haben wir gemeinsam mit vielen Freunden Fred Riedel zu Grabe getragen. Roland hat auf dem reformierten Friedhof in der Nähe des Fontane Grabes den 90. Psalm gelesen, wie ich ihn noch nie gehört habe. Und alle anderen auch nicht.
Es ist wahrhaft tröstend, wenn solche entscheidenden Augenblicke nicht sprachlos verspielt werden.
Gelebt und gestorben wird auch in dem Roman Die Weißweintrinker. Dessen Autor wir jetzt Gelegenheit haben, ganz herzlich zu begrüßen. Wolf Christian Schröder. Wunderbar, dass Sie da sind. Ich freue mich für Sie, dass Sie Ihren Text heute einmal so richtig genießen können.
Wolf Christian Schröder hat Slavistik studiert, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt, Theaterstücke geschrieben, Auftragsstücke und solche aus freien Stücken, mehrere Romane, Drehbücher, Gedichte; zwar in Bremen geboren, davon verrät der vorliegende Roman nichts, aber dann in Tübingen gewohnt, wovon der Roman voll ist. Mit Tübingen sind wir auch dem Weißwein näher, ohne den heute Abend nichts geht.
Mit Weißwein übrigens auch nicht. Jetzt geht es weiter zum Studium nach Tübingen
Zugänge zum Roman
Weißweintrinken,
Wenn Du nur glaubst, wird deine Liebe Wahrheit
Ist Gott egal
Der Idiot
Glaube, Hoffnung, Liebe
Unter den möglichen Zugängen zum Text haben sich etwa folgende angeboten. Als Protestanten sind wir, im Unterschied zu unseren katholischen Stiefschwestern, Weißweintrinker. Das bedeutet nicht, dass die Katholiken Rotwein tränken - die trinken gar keinen Wein, denn sie kriegen nichts.
Ich beziehe mich aufs Abendmahl.
Kennen die meisten Protestanten noch vom Tag ihrer Konfirmation.
Ursprünglich immer Weißwein. Erst in der durch liturgisches Unwissen geprägten Neuzeit schenkt die evangelische Gemeinde auch Rotwein aus, wenn es nicht gleich Coca Cola ist.
Der Weißweintrinker des Romans hat dadurch Teil an der Transsubstantiation, dass er glaubt, dadurch fliegen zu können, der Schwerkraft des Lebens nicht unterworfen zu sein, tatsächlich zu schweben.
Also - die Transsubstantiation wäre ein möglicher Schlüssel gewesen, wenn ich nicht fürchten müsste, dass Sie als Zuhörer bei dem Stichwort sofort abschalten.
Außerdem gibt es zwar eine ständige Anspielung ans Weißweintrinken, aber keine einzige Szene mit Abendmahl.
Außerdem: In diesem Roman trinken nur Männer Weißwein, Frauen trinken Rotwein. Rotwein ist zu fromm (sagt König) Männer haben diese Ikarusphantasien, stürzen von der Terrasse zu Tode, wenn die Frauen sie nicht hielten. Wenn nicht Gemeindepfarrer, dann Weißweintrinker, ein Dandy, ein Verwirrspieler, ein Hörer und Gehorcher auf seine innere Idiotenstimme, Machtphantasien, jemand, der in der Prüfung den Prüfern zuruft: Halt, Polizei! eine Marotte voller Hoffnung. Die sich nicht erfüllt, weil die Erde so eine eigenartige Schwerkraft entfaltet, dass man nicht abhebt. Einmal wäre es dem Johannes beinahe gelungen, die Hochzeit mit Seilers Tochter, da wollte er sich erhängen. Man denkt ja auch, ein Erhängter schwebe, aber das täuscht, er stirbt an der Schwerkraft.
Wenn du nur glaubst, wird deine Lüge Wahrheit.(s.145) Das Resumee des Johannes nach dem Besuch seiner tödlich kranken Mutter. Seine Eltern sind Apotheker und ironische Agnostiker. So haben sie auch ihren Sohn erzogen. Die Ironie möchte er gern aus seinem Leben verdammen, doch da tut er sich sehr schwer. Man könnte seine Wahl, Theologie zu studieren, schon als einen ironischen Schritt bezeichnen. Denn er glaubt nicht, möchte sich am liebsten über alle Prüfer lustig machen und erheben um dann seinen Unglauben herauszuschreien. Aber er ist zu Erdenschwer. Er schafft es nicht. Er wird einfach Pfarrer.
Aber hier, beim Besuch seiner Mutter, hat er sein Damaskus: Er trifft seine Mutter weinend im Bett und fordert sie auf, mit ihm zu beten.
Aber ich bin Atheistin.
Das ist Gott egal.(s.143) Und beten hilft gegen die Angst. Dann scheint es, als ob er ihr vorbete und ihr wiederum nachbete. Zwei Ungläubige bringen sich gegenseitig an den Rand des Unglaubens.
Johannes schließt den Besuch mit diesem gleichsam beiseite gesprochenen Satz: Wenn du nur glaubst, wird deine Lüge Wahrheit.
Glaubt er denn? Eigentlich nicht und seine Mutter auch nicht. Oder glauben beide, dass ein Gebet im Unglauben gesprochen, wahrhaftig sein kann? Wo ist hier das Moment des Glaubens? Es ist schön verborgen in der Antwort des Johannes auf den Einwand seiner Mutter: Vater und ich sind Atheisten. Nämlich: Das ist Gott egal. Damit bürdet der Autor Gott selbst die Last des Glaubens auf. Er verwandelt deinen Unglauben in Glauben, eine Lüge in Wahrheit. Jetzt, in diesem Augenblick, in dem du ihn darum bittest. Denn eine weitere Pointe ist: Die Mutter wird wunderbarer Weise wieder gesund und sagt Johannes, als er zum Gebet wieder antritt: Ist jetzt nicht mehr nötig. Ich bin ja gesund.
Ist das Gott auch egal? Warum, weil seine Liebe unendlich ist was ungefähr soviel bedeutet wie „egal“.
Intermezzo: Kazim Akboga’s „is mir egal“ Erinnern sie sich noch. Eine Rapp Einlage für die BVG. Die BVG nimmt jeden mit, ob Mann auf Pferd, Mann auf Mann, Frau mit Bart, Roboter mit Senf, Student mit Umzug, Hund in Haifischverkleidung, Trompetenschnorrer Band, Zwiebelschneidende, Käsereibende - is mir egal - na, warum wohl: Nur wir lieben dich so, wie du bist. weil wir dich lieben. BVG - es sei denn, du hast keine Fahrkarte. Dann ist Schluss mit Liebe.
Die göttliche BVG. Ihre Liebe war aber nicht stark genug, Kazim Akboga daran zu hindern, sich zwei Jahre später vor die BVG zu werfen.
Die Liebe, der große Egalisator. Darf man das so sagen?
Exkurs: Es gab eine Phase in der jüngeren Geschichte der Kirche, dass diese selbst den Eindruck hatte, nur solche mit Stallgeruch seien bei ihnen willkommnen. Die Zahl der Gottesbesucher war so überschaubar geworden, dass jeder jeden kannte. Daher war ihnen der fremdeste Fremde nicht fremd. Der war nicht vorbereitet, nicht eingeführt, kannte keine Verhaltencodes. So fand dieser keinen Weg hinein. Man blieb spürbar unter sich.
Als Antworten auf diese, das Evangelium für alle verschattende Lage, können gelten: Die Kirche ist eine Kirche für andere. Sie geht aus ihren Mauern heraus, mischt sich ein, mischt sich unter etc.
Und noch die andere Antwort, die hier eher in Frage kommt: Jeder ist willkommen. Egal wie er aussieht, ob er glaubt oder nicht. Man erinnerte sich an Paulus: Denn hier ist weder Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christus.
Heißt das nun: Gott sind die Unterschiede zwischen euch egal, ihr seid einer wie der andere.
Oder soll man sagen: bei Gott verlieren die Unterschiede zwischen euch ihr Trennendes. Ihr behaltet sie, aber ihr habt sie vor Gott, als hättet ihr sie nicht.
Paulus würde sagen: weil ihr glaubt.
Der Johannes des Romans sagt zu seiner Mutter: Ob du glaubst oder nicht - das ist Gott egal? Wie weit treibt aber Gott seine Gleichgültigkeit? Bis zu dem Punkt, dass er sagt: ob du mich annimmst oder verleugnest - das ist mir egal.
Von Glaube direkt zu Liebe
In dem Roman begeht der Johannes, der nicht der König ist, im Augenblick vor der Prüfung zum 1. theologischen Examen eine herausfordernde symbolische Handlung. Der Ton wird von 1. Kor. 13 bestimmt, von Glaube, Hoffnung, Liebe - und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle.
Hier die Szene: Nun die kurze Treppe aus Travertin. Glaube, Hoffnung, Liebe, so nenne ich seit dem ersten Semester ihre drei Stufen, die Liebe aber ist die größte unter ihnen: so muss man zählen, dann ist man oben angekommen. Manchmal aber überspringe ich eine von ihnen, nehme zwei Stufen auf einmal, komme vom Glauben gleich zur Liebe. (s.122)
Manchmal überspringt Johannes die Hoffnung - vom Glauben gleich zur Liebe. Nicht immer, nur manchmal. Dann will er vermutlich nicht den längeren Weg über die Hoffnung nehmen.
Verstehen Sie das? Ungeduld gegen Hoffnung.
Dagegen steht dieser Satz, der gut auf gleicher Stufe mit „is mir egal“ zu stehen kommt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Alles andere tot, nur die Hoffnung lebt noch. Aber sie ist nicht unsterblich, daher soll man nicht alle Hoffnung in die Hoffnung setzen.
Der Roman hält uns übrigens in Tübingen fest, wo vieles um Ernst Bloch kreiste. Das Prinzip Hoffnung hat er allerdings schon in Leipzig geschrieben. Im Westen arbeitete sich dann die Linke immer stärker an der Blochschen Hoffnung ab, da sie schließlich nur auf ein Vertrösten hinausliefe. Nicht Prinzip Hoffnung sondern das Prinzip Panik führt zum Ziel.
Last Generation. Last Generation überspringt gleich zwei Stufen direkt auf die letzte Stufe der Liebe.
Parallel zu den Weißweintrinkern habe ich den ersten Roman von Houellebecq- Ausweitung der Kampfzone - gelesen. Da geht es zu wie bei den Weißweintrinkern. Direkte, unmittelbare Befriedigung, Treppen gibt es da gar nicht. Dem Protagonisten gibt die Psychologin am Schluss des Romans Einblick in ihre Aufgabe: „Als Psychologin besteht meine Rolle darin, sie in die Lage zu versetzen, Methoden der Verführung anzuwenden, damit Sie wieder normale Beziehungen zu jungen Frauen haben können.“ (s. 148)
Verführung gibt es nicht in den Weißweintrinkern. Man kommt ohne Umschweife gleich zur Sache. Oft in der Fantasie. Aber immer direkt.
Vom Glauben gleich zur Liebe. Wie sieht das aus? Marion hatte in Berlin eine Nacht mit Johannes verbracht. Damals war er ein Dandy, Mitglied dieser Gruppe der Weißweintrinker, immer drei Fuß über dem Boden der Realität unterwegs. So war auch die NACHT. So hatten sie sich getrennt. Aber in ihr hatte sich die Nacht eingebrannt wie ein alles verändernde Ereignis. Als sie ihren nächtliche Partner unerwartet als Dorf-Pfarrer wieder trifft, brennt die Nacht erneut lichterloh auf. Sie besucht ihn, trinkt Weißwein m it ihm, er erinnert sich wieder an sie und die Nacht, ist sich unsicher, ob er die Nacht von damals bereut oder nicht. Und dann erscheint seine Frau Maria. Wir waren nicht nackt. Berichtet Marion davon. Wir hätten nackt sein sollen. Dann wäre alles klar gewesen.
Marion überspringt alle Stufen, die zwischen dieser Nacht. Vor 15 Jahren liegen und dem jetzt. Nicht nur die Stufe der Hoffnung, der neuerlichen Verführung, der nötigen Annäherungen. Da in ihrem Gespräch sie auch gleich den Glauben und ihren schwachen Glauben thematisiert – überspringt sie beinahe auch die erste Stufe.
Ein Roman des Überspringens. Denn auch das Fliegenwollen als Weißweintrinker ist der Versuch, die Stufen des Lebens zu egalisieren.
Der ROMAN enthält auch noch unser Thema: Kain und Abel.
Sie sind zwar keine Brüder, aber trotzdem werden sie manchmal so beschrieben. Als Abbild der Dioskuren möchte man sie beide ins Stift aufnehmen. Halb- oder Zwillingsbrüder Kastor und Pollux. Unzertrennliche Zwillingssterne sind sie aber gar nicht.
Sie heißen zwar beide Johannes, aber als vor dem Examen Johannes sich für König einsetzen soll, tritt er ans Mikrophon und ruft: soll ich meines Bruders Hüter sein?
#Das Buch schließt mit dem Sektenprediger König auf dem Parkplatz des Schlotzen Drogeriemarktes: Gott muss aus seinem Schlaf geweckt werden. Jesus habe ihn damals aufgeweckt. Jetzt müssen wir es tun.
Gott ist Weißweintrinker, d.h. es ist ihm alles egal. Der Wein verführt ihn, Dinge und Menschen zu verführen.
Daraus verstehen wir, dass König Abel und Johannes Kain ist. Tatsächlich wird König immer ähnlicher dem Abel, bis er ein weißer zitternder Fleischkloß geworden ist, obgleich er angefangen hat wie Kain. Während der Johannes, der Kain, - ja, das ist wirklich interessant, was aus ihm wird.
Der Idiot, die Idiotenstimme in mir
Nicht König, nur Johannes trägt die Stimme des Idioten in sich. Von Anfang an. Was das ist - eine Krankheit, der Dämon des des Sokrates, die ihn leitet, oder verleitet. Man muss es wissen. Weil man auf die Frage antworten möchte: Ist Johannes der Held des Romans? Einer von jenen, die Tod und Teufel die Stirn bieten, im Unterschied zu den anderen, die diese Stirn nicht haben. Helden sind heute politisch - ist damit Johannes erledigt?
Johannes ist gespalten. In den Johannes der Karriere, die er nicht machen möchte, und der Idiotenstimme die ihn von der Karriere befreien möchte und dadurch stark unter Druck setzt.
Der Johannes der Karriere kommt aus einem behüteten Elternhaus. Seine Eltern sind bürgerlich, betreiben eine Apotheke und unterscheiden sich in eine wunderschöne Mutter, die Eifersucht erzeugt und einen hässlichen Vater, der sein Erbteil an den Sohn gegeben hat. Das Zeichen für das Behütetsein sind Erdbeeren. Wo Erdbeeren sind, da ist dein Zuhause.
Der Johannes der Idiotenstimme kommt aus demselben Elternhaus. Die Eltern nennen sich Atheisten und erzogen ihn wirksam in der Ironie. Zeit seines Lebens möchte er die Ironie ironisch von sich abstreifen und bleibt gerade dadurch gefangen
Êr wächst auf mit der Sehnsucht, und ein total unernsthaftes Leben zu führen und findet sich immer als ernsthafter Mensch wieder.
Die Karriere wird dadurch unvermeidlich. Hochbegabt ist er auf natürliche Weise distanziert zu allen, doch kann er die Distanz nicht halten. Ohne klares eigenes Ziel läßt er sich von König zum Theologiestudium überreden. Immer träumt er von einem spektakulären Ausstieg, zum Beispiel die Prüfer in der Prüfung mit Hände hoch, Polizei zu verwirren. Der große Verwirrer möchte er sein.
Die Trennung von der Kirche gelingt ebenso wenig wie die von seiner Freundin Maria. Das ist wunderschön gemacht. Denn die Katholiken wissen ja auch nie, wenn sie von der Mutter Maria hören, ob nicht gerade von der Kirche gesprochen wird - und umgekehrt.
Der Weißwein, die Stimme des Idioten erweisen sich zu schwach, um entscheidend in den Alltag einzugreifen. Er heiratet schließlich Maria und wird für 20 Jahre Landpfarrer auf der Schwäbischen Alb, was wohl soviel wie der Schrecken aller Schrecken ist.
Aber nur weil die Stimme 20 Jahre lang schweigt, heißt das nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Sie schläft nur und kann plötzlich wieder geweckt werden. Dann ist alles so offen und unentschieden wie vorher.
So sei es auch mit Gott, heißt es am Ende des Romans. Gott ist nach Jesus erneut in Schlaf gefallen. Nun müssen wir über die Erde ziehen. Immer mehr müssen wird werden und durch die Länder schweifen. Bis Gott aufwacht und hilft.
DEnde 22.30 Uhr