Ewigkeitssonntag, Totensonntag, 21.11.2021
Kirche Sankt Matthäus
Die verschwundene Stadt
Predigt über Jesaja 65, 17-25
Liebe Gemeinde,
Am Donnerstag hatte ich noch Pfarrer Langbein gefragt, ob denn die Führung von Fred Riedel pünktlich beendet sein würde. Also, ob der Gottesdienst rechtzeitig beginnen könne. Er meinte, da müsse ich mir keine Sorgen machen.
Hab ich aber. In jeder Hinsicht, besonders in dieser: Ich weiß, Professor Riedel brennt für seine Führungen.
Lichterloh!
Man müsste das Feuer, das in ihm lodert, schon mit beiden Füßen austreten, wenn er um 18 Uhr hier erscheinen soll.
Ist klar, dass mir das leid täte.
Ich war immer für Verspätungen. Meinen Pfarrkollegen habe ich auf Vorwürfe erwidert: Wer pünktlich ist, ist irgendwo zu früh losgegangen. . Seelsorge und Zuspätkommen sind eben enge Geschwister und gute Vertraute, genauso wie Leidenschaft und Nichtloskommen.
Kann doch gar nicht anders sein!
Was passiert denn schon denen, die warten? Sie müssen etwas Geduld aufbringen. Manchmal auch etwas mehr Geduld. Im Grunde ist das doch kein Problem. Anderen fällt das spielend leicht. Afrika ist der Kontinent der Geduld, Südamerika, die arabische Welt– aber für uns bedeutet Geduld haben müssen eine sehr hoher Hürde. Gefühlt durchleben wir gerade ein Jahrhundert der Ungeduld. Alles soll schneller gehen als es gehen kann. Ich will darüber gleichsam nur beiseite sprechen. Wir wissen ja, was gemeint ist. Klimakrise als Formel 1. Covid 19 Pandemie Erledigung im Rennmodus. Ich habe mit Bewunderung gelesen, dass Afrika, der Kontinent der Geduld, die geringsten Infektionen hat.
Ungeduld ist auch ein Virus. Wird bei uns jedoch als Heilmittel angesehen.
Wer erinnert sic h nicht an den Spruch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Auf so eine Idee konnte man auch nur bei uns kommen.
Das Leben denkt gar nicht daran, jemanden zu bestrafen, der spät dran ist. Leben ist ja ein einziges später kommen
Nehmen wir nur diese wundervolle Vision unseres Predigttextes aus dem Buch Jesaja. Hören Sie nur: Jesaja 65, 17-25 Eine zweieinhalb Jahrtausende alte Verheißung
Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. 18Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne und sein Volk zur Freude, 19und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk.
Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. 20Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern
als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. 21Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. 22Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen.23 Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen, denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des Herrn, und ihre Nachkommen sind bei Ihnen.24 Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, werde ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Schaf sollen beieinander weiden, der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der Herr.
„Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“ Eine Verheißung, der wir entgegen gehen können. Es fehlt hier leider eine Zeitangabe. Wir wissen nicht, wann dies geschehen soll. Als Christen sagen wir: Doch, mit Christus ist es geschehen, mit ihm sind Himmel und Erde neu geworden. Aber darum geht es ja gerade in dieser Reihe von St. Matthäus.
Die verschwundene Stadt, um die wir uns bemüht haben, und besonders die Art und Weise, wie sie verschwunden gemacht worden ist, säen Zweifel in den durch Christus erneuerten Himmel und die erneuerte Erde bei uns. Dies, was wir hier erlebt haben, ist nicht die Vollendung dessen, das Jesaja zuerst verheißen wurde. Wir lassen wohl den Wolf und das Schaf auf dieselbe Weide, aber der Wolf frisst statt Gras das Schaf. Wire leben nicht im reinen Reich der Gnade Christi. Und wenn wir als Christen davon nicht abgehen wollen, bleibt die Frage, wo wir dann zwisc hen 1933 und 1945 gelebt haben und warum wir überlebt haben? Die Texte, die vorgestern gelesen wurden, haben es im Gegenteil zur Gewissheit werden lassen, dass dies nicht der verheißene neue Himmel und die verheißene neue Erde war. Es war im Gegenteil eine gnadenlose Hölle. Und wir, große Teile des Wir, wir waren die Hölle der anderen.
Fahr zur Hölle, jovialer Mordwanst, du hast dein Leben hier auf der Erde wenigstens genossen, während dein Herr und Meister nie nirgend anders gewesen ist als in der Hölle. (Thomas Mann zu Göring und Hitler)
Vertreter des Tausendjährigen Reiches, deren Horizont aber nur jene 10 Jahre weit reichte, in denen Berlin in ihr groteskes Germania verwandelt werden sollte. Die große Halle sollte 1950 fertig gestellt sein. 320 Meter hoch für fast 200000 Claqueure. Nicht nur Berlin, sondern auch Hamburg, das 250 Meter hohe Gauhochhaus an der Stelle, an der sich jetzt das Grab Klopstocks befindet, dann noch Nürnberg, München, Linz - sie alle sollten eine solche Zerstörung durch die Verwandlung Lieschen Müllers zum Übermenschen erleiden müssen. Als der Vater von Albert Speer, ebenfalls Architekt, die Pläne für das neue Germania zu Gesicht bekam, hat er gesagt: „Ihr seid komplett verrückt geworden!“
Die Hölle dauerte nur 12 Jahre., ihr Zeichen war die dämonische Ungeduld.
Zurück zur Verheißung, die Jesaja zuteil geworden ist.
Man kann ja nicht übersehen, dass die Verheißung schon über 2000 Jahre zurückliegt. Gott und Pünktlichkeit liegen bisweilen weit auseinander. Gott ist langmütig, geduldig und von großer Güte. Mit uns. Das erwartet Gott auch von uns.
Wir müssen uns gedulden. Wer sich in der Bibel umgesehen hat, der erinnert sich, dass Geduld der Schatz ist, den wir bei Gott haben. Bedrängnis bringt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung.
Geduld als Baustein der christlichen Existenz.
Aber warum verheißt Gott so etwas? Und auch noch mehrfach in der Bibel. Nicht nur dem Propheten, sondern auch im 2. Petrusbrief und in der Apokalypse. Dort ist es noch radikaler als hier: Der Tod wird nicht mehr sein, kein Weinen und keine Klagen.
Es ist deutlich:
Gott will die Erneuerung.
Warum will er sie?
Doch wohl deshalb, weil wir nicht in der besten aller möglichen Welten leben. Und auch das Bild des Himmels und selbst das Bild von Gott müssen erneuert werden. Das ist eine neue Schöpfung. Wir erkennen noch die alte Schöpfung und sehen auch schon ihre neue Gestalt. Sehr plastisch bei Jesaja
Gott wird sich freuen über sein Volk, und Jerusalem wird lauter Freude und Wonne sein. Wer hundert Jahre alt ist, wird als Knabe angesehen, wer früher stirbt, gilt als verflucht. Arbeit wird sich für jeden lohnen, Sklavenarbeit und Unterdrückung wird nicht mehr sein. Wer stirbt, soll auf ein erfülltes Leben zurückblicken können. Es wird ihm geschehen wie den Erzvätern, von denen es hieß: und als sie alt waren und lebenssatt, taten sie ihre Füße zusammen und starben und wurden versammelt zu ihren Vätern.
So wird es sein, aber, Brüder und Schwester, übt euch in Geduld. wann, ist nicht gesagt. Auf die Erfüllung warten wir. Beim Stichwort Geduld muß ich immer an einen Ausspruch Lenins denken: Geduld und Ironie sind die Tugenden des Revolutionärs. Dieselben Tricks, die wir auch anwenden. Mit Hilfe der Ironie versucht er, sich die Bürde der Geduld abzustreifen. Aber wir, die wir keine Revolutionäre sind, können der Aufgabe der Geduld nicht entgehen. Denn darin drückt sich unser Glaube aus. In der Geduld Christi und der Langmut Gottes gründet unser Glaube, weil es sonst mit uns vorbei wäre. Eigentlich müssen wir überhaupt fragen, warum es mit uns noch nicht aus ist?
Die Güte des Herrn ists, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu , und seine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. (Klagelieder Jeremias 3)
Und wieder heißt es: Zeit haben heißt Leben. Erneuerung braucht seine Zeit.
Zum Beispiel die Stiftung St. Matthäus mit ihrer Reihe „Die versunkene Stadt“. Deren Versinken liegt jetzt 80 Jahre zurück. Sie hat sich Zeit genommen, sich damit zu beschäftigen. Spät – bestimmt. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht brauchte es 80 Jahre um die Ungeheuerlichkeit des Versenktwerdens zu ermessen.
Albert Speer in einem Schreiben: Was macht die Aktion der Räumung der 1000 Judenwohnungen?
Wie viel Zeit brauchen wir, um bis ins eigene Innere zu erschrecken darüber, dass ein Kriminalbeamter in das Haus der 85jährigen Martha Liebermann eindrang, um sie nach Theresienstadt abtransportieren zu lassen. Um zu begreifen, dass es in nur wenigen Jahren wirklich geworden war, die Aura eines Menschen so zu zerstören, dass man von Staats wegen keine Ehrfurcht mehr vor einer großen alten weißen Dame empfand.
Wer das liest, ahnt, dass damals die letzten Tage der Menschheit angeborchen waren, und dass, wie am Schluss des Schauspiels Karl Kraus Gott sagen lässt: Das habe ich nicht gewollt.
Und dass die Frage sich aufdrängt: warum ist es mit uns nicht gar aus? Wie konnten unsere Eltern und damit wir dies alles überhaupt überleben? Warum sind wir und sie nicht längst vor Scham ausgestorben. So viele derer, die die Konzentrationslager überlebten, haben die Scham nicht ertragen, noch da zu sein, die vielen anderen aber nicht. und sind ihnen nachgestorben.
An meiner Stelle gestorben. Ein Gedanke, der die Erinnerung sovieler Überlebender der Konzentrationslager erfüllte. Jemand musste sterben, dass ich lebe. Da wurde das Werk Christi lebendig. An meiner Stelle gestorben.
Aber wir: Warum haben wir überlebt? Und wie haben wir überlebt? 80 Jahre danach ist nicht zu spät, sich diese Frage vorzulegen, Besonders wenn man auf solche Geschichten stößt:
„ Stefan, mein jüdischer Freund, ist einem SA-Kommando in die Hände gefallen, das sich in den Straßen der Hauptstadt damit vergnügt , Passanten von verdächtigem Aussehen aufzustöbern. Er mochte noch soviel protestieren, die SA Leute haben ihn in einen Hauseingang gezerrt, ihm mit Gewalt den Hosenschlitz geöffnet und dabei die Knöpfe abgerissen. Dann haben sie ihn mit Beschimpfungen überschüttet. Wir sollten dich umlegen, weil du uns angelogen hast, du seist kein Jude. Sie haben sich mit ein paar Fußtritten in die Geschlechtsteile begnügt.“
Sie haben verstanden: Die SA kontrollierte auf offener Straße verdächtige Männer, ob sie beschnitten sind.
Walter Laqueur, ein jüdischer Historiker aus Berlin, mit einer deutschen nicht jüdischen Frau verheiratet, kam geduckten Hauptes und oft inkognito in Berlin bis ans Ende des tausendjährigen Reiches, weil ihn die Ehe mit seiner arischen Frau schützte. Diese war sterbenskrank, doch hat sie ihre Krankheit um seinetwillen niedergerungen, bis der deutsche Albtraum zu Ende war - dann erst ist sie gestorben und er konnte leben. (Walter Laqueur, Jahre auf Abruf. Roman)
Das Lied - Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern - hat Jochen Klepper gedichtet, eines der vielen Lieder, die von ihm in das Gesangbuch au fgenommen wurden. Er war auch einer von den Betroffenen der großen Zerstörung Berlins durch das Duo Hitler und Albert Speer. Jochen Klepper wohnte mit seiner jüdischen Frau im südlichen Steglitz, Oehlertring 7. Dort sollte der großmannssüchtige Südbahnhof gebaut werden. Die Familie musste ihre Wohnung aufgeben. Etwas, das von Jochen Klepper auch in Bezug auf seine Ehe gefordert wurde. Doch er gab nicht nach. Er verlor seinen Sitz im öffentlichen Leben, sogar als Soldat wurde er entlassen, weil er als mit einer Jüdin verheirateter unwürdig sei, Deutschland zu verteidigen. Verfolgt bis in den letzten Winkel seines Lebens nahm sich die Familie Klepper gemeinsam das Leben. Der Titel seiner Tagebuchaufzeichnungen ist dem Psalm 57 entnommen: Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! Denn auf dich traut meine Seele und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis das Unglück vorüber ist. Zwei Jahre durchzuhalten, dazu fehlte ihm einfach die Kraft. Er hatte schon sein Theologiestudium aufgeben müssen, weil er sich wegen seiner ständigen Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit die Belastung eines Pfarramtes nicht zutraute, wie hätte er da den Kampf gegen ein ganzes Volk aufnehmen sollen.
Es wäre wohl ein tausendjähriges Totenreich geworden. Aber auch, wenn es sich auf 12 Jahre beschränken musste, hat das Reich den Tod als Ziel nicht aus den Augen verloren. Zum Ende des Krieges äußerte sich ein Ministerialsprecher aus dem Propagandaministerium: „Eine Menge Selbstmordkandidaten gehen umher und warten auf den rechten Augenblick. Wir sehen etwas Heroisches darin, dass Bürgermeister, Landräte, Regierungspräsidenten und andere hohe Beamte in irgend einer Form Harakiri verüben, oftmals zusammen mit ihrer ganzen Familie. Es wäre zweifellos am besten, wenn die vorrückenden Feinde nur noch tote Deutsche vorfinden würden.“ Zitiert aus einem Buch mit diesem Ausdspruch eines Vaters als Titel: „Versprich mir mein Kind, dass du dich erschießt.“
Denn, wie Goebbels schrieb: Man wirft uns vor, wir verstünden nicht zu leben, das mag wohl sein. Aber zu sterben verstehen wir fabelhaft. Das war das Programm, und es hat alles infiziert.
Vor 86 Jahren hielt Dietrich Bonhoeffer eine Predigt an einem Totensonntag wie diesem. Er hielt sie vermutlich in seinem illegalen Predigerseminar in Finkenwalde. Er sagte: Gott, gib Geduld deinen Heiligen in aller unserer Ungeduld, und fuhr dann fort: „Werden wir es nun begreifen, daß es heute eine Gnade ist zu sterben, weggenommen zu werden? Wer von uns weiß denn, ob er durchhält? Wer weiß denn, wie er in der Stunde der letzten Probe stehen wird? Darum: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an.“ Von nun an, wo die Macht Babylons und des Tieres übergroß wird, in der Hoffnung, Glauben zu halten, sterben im Herrn.
Und noch einmal die Frage, warum haben wir überlebt und leben immer noch? Die unbegründete Güte des Herrn ist es, dass wir nicht gar aus sind. Gott ist durch nichts genötigt, aber er will mit Notwendigkeit seine eigene Güte. So hat er uns das Leben geschenkt, ohn alles Verdienst und Würdigkeit. Gott wird den Himmel und die Erde auch ohne uns erneuern, aber wir wollen ihn bitten, dass dies auch bei uns geschehe.
So könnte Luther beten.
Gottes Antwort auf die Frage bei Jesaja wäre – und man soll aus der Bibel einfach keinen Zettelkasten machen, sondern auch das lesen, was drum herum steht – dann diese: Ich ließ mich suchen von denen, die nicht nach mir fragten, ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten. Zu meinem Volk das meinen Namen nicht anrief, sagte ich: Hier bin ich, hier bin ich.
Amen